Books Books Books: Autofiktion

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Selbstisolation sei dank, haben wir in den vergangenen Wochen so einige Bücher gelesen. Darunter sowohl deutschsprachige als auch englischsprachige Romane und Kurzgeschichten von spannenden Newcomerinnen. Wobei – kann man von einer Newcomerin sprechen, wenn ihr Text bereits über hundert Jahre alt ist? Marie hat zwei ihrer liebsten Entdeckungen für euch zusammengefasst.

Ich erwarte die Ankunft des Teufels von Mary MacLane

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Worum geht’s?

Habt ihr schon einmal von der Autorin Mary MacLane aus Montana gehört? Ich bis vor kurzem (leider!) nicht. Wie großartig wäre es gewesen, als Mädchen oder Teenagerin von dieser unfassbar coolen Frau zu erfahren? Einer Frau, die im Jahr 1902 mit gerade einmal 19 Jahren tagebuchartige Texte veröffentlichte, in denen sie über ihr Gefühl schreibt, nicht verstanden zu werden – anders zu sein als die anderen jungen (und erst recht als die älteren) Menschen im kleinen Butte-Montana. Mary MacLane wusste, dass sie Talent hat. Ihr Text lebt von dieser Überzeugung, so wie von ihrer Einsamkeit und Langeweile. Als Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist es nicht leicht, durch künstlerisches Schaffen öffentliches Auf- und Ansehen zu erlangen. Und doch gelang es Mary MacLane mit ihrem ersten Buch Ich erwarte die Ankunft des Teufels (I await the devil's coming) schlagartig berühmt zu werden. Wie ihr dies gelang?

“Mary MacLane bediente sich der Waffe der unterdrückten Frau unter stumpfen Männern, des einsamen Teenagers unter idiotischen Erwachsenen, des mondänen Genies unter kleinkarierten Provinzheinis: Sie schrieb Tagebuch”, schreibt Juliane Liebert im Nachwort der Neuausgabe. Wenn man liest, wie MacLane über ihren Alltag, ihr Umfeld und ihre Frustration im angesichts der Geschlechterungleichheit spricht, ist es schwer zu glauben, dass dieser Text über hundert Jahre alt sein soll.

Das mag ich besonders: 

Besonders gut gefällt mir Mary MacLanes Attitude, ihr Selbstbewusstsein, die Theatralik und ihr Humor. Sprachlich kann der Text auch so Einiges. Die Übersetzung stammt von der großartigen Ann Cotten.

“Ich habe die Persönlichkeit, die Anlagen eines Napoleon, wenngleich in einer weiblichen Version. Daher erobere ich nicht; ich kämpfe nicht einmal. Ich schaffe es gerade einmal, zu existieren.”


Wer steckt dahinter?

Mary MacLane (1881-1929) kam in Winnipeg, Kanada, zur Welt, zog mit ihrer Familie aber bald in die Bergarbeiterstadt Butte in Montana, USA. Mit ihrem ersten Buch wurde sie schlagartig berühmt, weitere autobiographische Texte folgten. MacLane, deren bohemehafter Lebensstil und Biesexualität immer wieder für Skandale sorgten, starb im Alter von 48 Jahren in Chicago.

Ich erwarte die Ankunft des Teufels von Mary MacLane, Reclam, 2020


Notes to Self von Emilie Pine

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Worum geht’s?

Lange Zeit war ich kein großer Fan von Kurzgeschichten, weil es mir nie recht gelang, mich wirklich einzulassen. Oft las ich nur die ersten zwei Geschichten eines Bandes, wenn mich die Autorin interessierte. Bei Emilie Pines Notes to Self ist das anders. Zwar handelt jeder Essay von einer anderen Episode in ihrem Leben, wodurch sie sich in ihrer Thematik unterscheiden, doch jede Geschichte ist so stark an ihre Erzählerin gebunden, dass sie sich (ähnlich wie bei MacLane) wie Tagebucheinträge lesen. Die Intimität in Pines Texten ist so stark, dass mich das Lesen teilweise wirklich fertig gemacht hat – im allerbesten Sinne.

Notes on Intemperance, From the Baby Years, Speaking/ Not Speaking, Notes on Bleeding & Other Crimes, Something About Me, This is Not the Exam.

Schon allein die Titel der einzelnen Essays zeigen: Das Private ist politisch.

Es geht um die Rollenumkehrung, wenn Eltern altern und man sich mit einem Mal um sie kümmern muss, um Kindheitserinnerungen, die aus heutiger Perspektive neue Bedeutungen annehmen, um Verlust und zerplatzte Träume, Tod. Es geht um die Rolle der Frau und den Umgang mit Schmerz in unserer Gesellschaft und in unseren Köpfen. Es geht um Scham und den Prozess, etwas Aufzuschreiben und in Worte zu fassen, das man bislang vor anderen (und sich selbst) verheimlicht hat. Es geht um Dinge, die man am liebsten nicht erzählen würden, weil es einem recht wäre, wenn sie nie passiert wären. Und doch ist es sowas von an der Zeit, dass sie erzählt werden. Emilie Pine tut dies auf eine Weise, bei der mir ihre Worte unter die Haut kriechen.

Das mag ich besonders: 

Pine überzeugt, indem sie nicht überzeugen will und keine artifizielle Sprache für ihre Gedanken und Gefühle nutzt. Sie schreibt real und behält die Balance zwischen persönlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Einordnung/Reflexion.

„There is a current slogan that makes me laugh: a woman can do anything a man can do, and do it while bleeding. But at the same time as laughing, I‘m also wondering - what if I can’t? (...) Sometimes I am doubled up in pain. Sometimes even the idea of standing for any length of time leaves me feeling faint. I do not feel like a feminist hero in these moments, I feel like I want to go home and get back into bed. But in a world where women are still over-identified with their bodies, where women have to prove their intellectual ability over and over, what is the threshold for claiming this pain? If you have a headache, it’s strain from too much thinking (I‘m so brainy, I‘m so busy). If you have a sore back, it’s from over-exertion (I‘m so fit, I‘m so active).(...) But a cramped abdomen? (I‘m so female.) It’s unspeakable.“


Wer steckt dahinter?

Emilie Pine ist Professorin für modernes Drama am University College Dublin. Mit Notes to Self gewann sie verschiedene Preise wie den Butler Literary Award, es wurde Book of the Year der irischen Book Awards im Jahr 2018.

Notes to Self by Emilie Pine, published by Penguin, 2018.  

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